Der Königssohn und sein Esel
Ein Märchen
Es war einmal ein König, der herrschte über ein großes, reiches Land. Und er war gütig und gerecht. Als er aber kam zu sterben, rief er seine Frau und sprach zu ihr: „Ich lege das Reich in deine Hände, und du sollst es nach sieben Jahren unserem Sohn überlassen. Und du sollst für meine Untertanen sorgen, dass sie säen und ernten können und sollst andere Länder nicht mit Krieg überziehen.“
Die Königin aber hatte ein kaltes Herz. Nachdem ihr Mann, der König, gestorben und begraben war, sann sie darauf, ihren Reichtum und ihre Macht zu vergrößern. Sie rief ihren Sohn zu sich. „In einer fernen Gegend des Reiches lebt inmitten eines tiefen Waldes eine Hexe, die mit ihrem Zauber Macht über die Menschen erlangen kann“, sprach sie. „Du sollst jetzt zeigen, dass du stark bist und würdig, über das Reich zu herrschen. Nimm dein Schwert und töte sie und bringe mir Kunde davon.“
Der Königssohn war eben erst dem Kindesalter entwachsen und zudem noch von kleinem Wuchs, sodass er kein Pferd besteigen konnte. Deswegen wählte er sich aus den königlichen Stallungen einen Esel als Reittier. Er nahm Abschied von seiner Mutter und machte sich auf die Reise. Nachdem Reiter und Esel das Königsschloss hinter sich gelassen hatten, begann der Esel zu reden und sprach: „Wohin geht‘s, guter Freund?“ Der Königssohn wunderte sich, aber er freute sich auch, dass er einen Reisegefährten mit Verstand hatte und antwortete: „Wir reiten in den großen, dunklen Wald, um eine Hexe zu besiegen und uns ihrer Zauberkräfte zu bemächtigen.“
„Seid Ihr sicher, dass euer Vater, der König, ebenso handeln würde?“ Der Königssohn wusste darauf keine Antwort und sagte: „Die Königin hat es so befohlen.“
So reisten sie viele Tage, bis sie an den großen, dunklen Wald kamen. Die Äste der Bäume hingen so tief, dass der Königssohn absteigen und neben dem Esel gehen musste. Endlich kamen sie an eine kleine Hütte im Wald.
„Hier ist es“, sagte der Esel und verriet nicht, woher das wusste. Der Königssohn klopfte, und aus der Tür trat eine Frau. Er zog sein Schwert, um sie zu töten. Als er ihr aber ins Gesicht blickte, fühlte er Mitleid und ließ sein Schwert sinken. In dem Moment schwanden seine Sinne. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem prächtigen Schlafgemach. Er stand auf und trat ans Fenster. Wo früher der Wald gewesen war, war jetzt ein großer Garten, und zu den Seiten hin sah er, dass er in einem Schloss war. An der Schlossmauer waren Rosen gepflanzt, die sich fast bis zur Höhe seines Fensters emporrankten.
„Wo bin ich?“, fragte der Königssohn.
„In meinem Schloss“, sprach eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um. Dort stand ein alter Mann in dem grauen Rock eines Gelehrten.
„Wer bist du?“, fragte der Königssohn.
„Ich bin dein Esel“, sagte der Gelehrte, „oder richtiger, ich war dein Esel. Ich habe viele Jahre deinem Vater gedient, als er noch lebte. Aber deine Mutter wollte meinen Rat nicht hören und hat mich mit Zauberkünsten in einen Esel verwandelt. Und dieses mein Schloss in eine armselige Hütte. – Lass uns nun hinab gehen und meine Tochter, die Schlossherrin, begrüßen.“
Er führte den Königssohn die Treppe hinab in einen großen, prächtigen Saal. Dort stand eine junge Frau und blickte ihn lächelnd an. Er aber erkannte ihre Augen wieder.
„Du hast den Zauber gebrochen.“, sagte der Gelehrte. „Du hast deinem Herzen und nicht deinem Schwert vertraut.“
Die Königin indessen saß an einem Fenster ihres Schlosses und wartete, dass ihr Sohn zurückkäme. Nach vielen Tagen vergeblichen Wartens schickte sie ihre Diener aus. Die Kundschafter berichteten, dass er weit weg in einem prächtigen Schloss wohne. Da wurde sie sehr zornig. Sie setzte sich ans Fenster und weinte. Aber es waren Tränen der Wut, und wo sie auf die Erde fielen, wuchs ein dichtes Dornengestrüpp. Es wuchs immer höher und bald konnte es kein Mensch mehr durchdringen. Nur die Krähen kreisten noch um die Türme des Schlosses. Als man im Lande davon hörte, gab man die Königin verloren, und die Herrschaft ging an den Königssohn über.
Er regierte viele Jahre und war ein gütiger und gerechter Herrscher.